19.3.2010

Grundkurs Stanislawski-Strasberg, 1. Lektion

Probenfoto

TEZET Oerlikon

Es ist nicht weit vom Bahnhof Oerlikon, das Gemeinschaftszentrum mit der charakteristischen Abkürzung TEZET. Es befindet sich in einem altehrwürdigen Haus in einem unspektakulären Braunton. Als ich weit vor der abgemachten Zeit dort schlendern ankomme, ist nicht viel los im Zentrum. Zwei junge Mädchen in Sportsachen kichern im Keller, aber ein handgeschriebener Zettel mit großen rosa Buchstaben weist mir den Weg nach oben. Helles Treppenhaus, alles angeschrieben, geräumige Toiletten mit schwer verständlichen Symbolen für Männlein und Weiblein, ich muss mehrmals hinschauen und bin doch nicht ganz sicher, dass ich im richtigen verschwinde. Der Kursraum ist anonym und hell, es gibt viele und große Fenster, helles Parkett, ansonsten praktische Stapeltische und Holzstühle, Blechschränke und auf den Schränken alle möglichen Spielsachen. Zwei Leute sind schon drin, weitere treffen ein.

Theorie

Wir sollen Notizen machen, viele. Denn es gilt die Kausalkette des Lernens:

  • Gesagt ist noch nicht gehört,
  • gehört ist noch nicht verstanden,
  • verstanden ist noch nicht einverstanden,
  • einverstanden ist noch nicht getan,
  • getan ist noch nicht beibehalten.

Das ist schon mal das erste, was wir aufschreiben. Ich muss zurück an die Uni denken, und an die Schule. Denn nachher kam es bei mir selten vor, dass ich fleißig mitschrieb. Einmal, bei einem Kundentermin hatte ich kein Schreibzeug dabei, dann wäre es wichtig gewesen, um Aufmerksamkeit zu signalisieren. Und nach meinen Vorträgen während des Doktorats schrieb ich immer emsig die Kommentare meines Profs mit. Aber ansonsten ist mir diese analoge Art der Aufzeichnung fremd geworden und ich empfand es als erfrischend.

Ein weiteres Argument für das Mitschreiben ist die Vergesslichkeit. Unser Gedächtnis merkt sich nur 15% des Gehörten, 25% des Gesehenen, 60% des Gehörten und gleichzeitig Gesehenen und 75% des selbst gemachten. So in der Form habe ich schon oft Statistiken vernommen, jedoch hatte ich daraus immer abgeleitet, alles auszuprobieren und möglichst selbst zu machen. Aufschreiben ist aber mal ein Anfang und zwingt einen zur Verarbeitung und Klarheit.

Neben den Notizen sollen wir auch ein Tagebuch zu den einzelnen Lektionen führen und unserem Leiter schicken. Für mich bietet sich dieses Weblog als Medium dafür an, gegebenenfalls ergänzt durch private Aufzeichnungen.

Der erste Eindruck

Eine ausgewählte Studie [1] zeigt, dass man einige Charaktereigenschaften von Menschen sehr schnell, zum Beispiel anhand kurzer Videoaufnahmen, analysieren kann. Von den fünf wichtigen Charakter-Eigenschaften (Big Five) lassen sich Geselligkeit (Extroversion) und Offenheit für neue Erfahrungen besonders gut einschätzen. Weniger gut hingegen konnten die Testpersonen Aussagen zu Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit und Gutherzigkeit machen. Die Intelligenz eines Menschen lässt sich ebenfalls bereits nach kurzem Kennenlernen erstaunlich gut beurteilen, besonders aufschlussreich ist die Art und Weise, wie die Beurteilten Zeitungsschlagzeilen lesen.

Wichtig für die schauspielerische Arbeit ist die Kenntnis des eigenen ersten Eindrucks. Nur dann kann man entweder damit arbeiten oder aber – bei entgegengesetztem Rollenprofil – bewusst gegensteuern.

Übung zum ersten Eindruck

Spannend war die praktische Umsetzung dieses Konzepts. Bis dahin hatte vor allem Marco gesprochen, der Kursleiter. Wir Kursteilnehmer waren mit Zuhören und Notizenmachen beschäftigt. Jetzt teilte uns Marco in Zweiergruppen ein, ich kam gegenüber Flurina zu sitzen. Wir hatten ein paar Minuten Zeit, um den anderen anzuschauen, dann sollten wir ihn vorstellen. Gesprochen wurde kein Wort.

Ich kam mir vor wie Sherlock Holmes im kürzlich herausgekommenen Kinofilm. Die neue Freundin von Dr. Watson fragt Holmes, was er über sie aussagen könne. Und Holmes legt los, mit seiner Manie für Details kann er extrem viele richtige Aussagen treffen. Ich war weit davon entfernt. Beim Alter verschätzte ich mich extrem, beim deutsch-französischen Elternhaus genauso. Aber dafür weiß ich jetzt, wie ich wirke: musikalisch, willensstark, zurückhaltend, farbverachtend, sportlich. Ich hatte meine schwarzen Theatersachen und Turnschuhe an, meine Finger sind lang und erinnern viele an die eines Pianisten und mein Gesichtsausdruck an diesem Abend war anscheinend zurückhaltend und entschlossen zugleich.

Spannend war, wie stark die Wahl von Kleidung und Schmuck die entstehenden Charakterisierungen beeinflusste! Eine Goldkette wurde gleich zum Beruf stilisiert, schwarz lackierte Fingernägel gaben Rätsel auf und breitbeiniges Hinsetzen wurde als raumgreifend interpretiert.

Spannung und Entspannung

Schon lange wollte ich diese klassische Stanislawski-Übung mal sehen, an diesem Abend war es soweit. Eine Teilnehmerin sollte Liegestützen machen und der Kursleiter fragte sie europäische Hauptstädte ab. Bei Portugal war Schluss, sie konnte sich durch die körperliche Anstrengung einfach nicht konzentrieren. Danach meldete ich mich freiwillig für eine ähnliche Übung. Nach zwanzig Liegestützen sollte ich anspruchsvolle Kopfrechenaufgaben lösen. 12×27 war die erste, ich tippte erst auf 254, hatte mich aber vertan und korrigierte auf 324, das korrekte Ergebnis. 62/4 stellte mich vor größere Probleme, aber letztlich kam ich auch da aufs richtige Resultat 15,5. Generell fallen solche Aufgaben und Denken bei einer körperlichen Anstrengung schwerer, die Gedanken quälen sich mühsam voran.

Wichtig für den Schauspieler ist die Fähigkeit der Entspannung. Er muss sich körperlich, emotional und seelisch entspannen, damit er bereit für den künstlerischen Prozess ist. Die Entspannungsroutine ist dabei wie eine Trennscheibe zwischen dem Alltagsleben und der Rolle. Ziel ist es, sich leer zu machen wie ein weißes Blatt Papier, auf dem sich das Kunstwerk entfalten kann.

Da ein gemeinsames Aufwärmen nicht immer gewährleistet ist, haben wir ein Entspannungsritual entwickelt, das man auch allein auf engstem Raum durchführen kann. Denn an einem Filmset geht es hektisch zu und notfalls muss ein Stuhl ausreichen.

Entspannungsritual

  1. Ich sitze bequem auf dem Stuhl, fast so, als würde ich einschlafen wollen.
  2. Durch langsame Bewegungen meiner Gliedmaßen und meines Körpers überprüfe ich, wo es heute hakt. Sind die Beine noch schwer von der Radtour? Ist der Nacken verspannt vom Bürojob? Oder stecken mir noch die Liegestütze der Stanislawski-Übung in den Trizeps? Es kann jeden Tag etwas anderes sein.
  3. Dann massiere/dehne/bewege ich die mehr oder weniger betroffenen Körperteile und mache dabei unentwegt Geräusche, um emotionalen Stress abzubauen und meine Stimme zu trainieren.
  4. Wenn ich mit dem ganzen Körper durch bin, beginne ich eine einfache Zazen-Meditation. Ich atme zweimal tief durch, mache Kreise mit dem Oberkörper, die immer enger werden, bis ich mein Zentrum gefunden habe.
  5. Ich konzentriere mich auf den Atem und zähle nach Belieben, aber maximal bis zehn. Ich möchte eins werden mit der aktuellen Zahl, nichts anderes existiert.
  6. Wenn die Meditation nicht funktioniert, geht es zurück zu 3.
  7. Nach der Meditation geht es zu einer Sinneserinnerung. Ich erinnere mich möglichst lebhaft an ein sinnliches Erlebnis, zum Beispiel das Zubereiten und Genießen von Tee.

Authentizität

Ein Mensch ist gekennzeichnet durch seine Vergangenheit, seine momentane psychische Befindlichkeit, seine Körperlichkeit und sein aktuelles Bedürfnis und Ziel. Für eine Rolle gilt es, diese Punkte stimmig darzustellen.

Methoden dafür sind

  • Informationsbeschaffung
  • eigene Erfahrungen
  • Erfahrung sammeln, Handlung selbst machen
  • Erfahrungen jenseits des Machbaren, Erlebten (z.B. Teufel) lassen sich nur indirekt angehen durch Objektarbeit.

Sinneserinnerung

Wahrnehmungen werden dann leichter gespeichert, wenn sie eine emotionale Bedeutung haben. Deshalb sind die meisten Sinneserinnerungen emotional geladen. Ziel der Übung Sinneserinnerung ist es, den Gegenstand wieder zum Leben zu erwecken, als geschähe es in diesem Moment erneut. Beim Austesten am realen Objekt sollte man auf Details achten und den Gegenstand in eine neue Perspektive befördern.

Übung zur Sinneswahrnehmung

Mit verbundenen Augen den Raum erforschen, sich an die Sinneseindrücke erinnern. Besonders interessant ist der Riechsinn, der wenig gebraucht wird aber eine starke emotionale Bedeutung hat.

Aufgaben

  1. Bewusst und mit allen Sinnen durchs Leben gehen, Geruch, Temperatur und Geräusche aufsaugen, Früchte untersuchen, Augen schließen und nur hören.
  2. Entspannungsübungen, Zazen praktizieren
  3. Warmes Getränk bewusst zubereiten und genießen für Sinneserinnerung am Anfang der nächsten Lektion

[1] Peter Borkenau, Anette Liebler, Trait inferences: Sources of validity at zero acquaintance, Journal of Personality and Social Psychology. Vol 62(4), Apr 1992, pp. 645-657.