16.10.2002

Theater, alles auswendig

Noch acht Tage bis zur Show! Langsam wird es ernst, Mike (Regisseur) erinnert gerade an wichtige Dinge. Allem voran steht natürlich das Kennen der eigenen Zeilen. Aber auch Requisiten, Kostüme und Öffentlichkeitsarbeit spricht er an, um den Erfolg der Aufführungen zu gewährleisten. Nun wird es ernst, ein erneuter “full run” wird wohl in wenigen Minuten beginnen.

Davor gibt es immer ein paar andächtige Minuten, Mike leitet uns durch eine Art Meditation. Er sagt, dass wir diesen Tag vergessen sollen, die vielen kleinen Ärgernisse und Plagen. Dann sollen wir uns vorstellen, durch Raum und Zeit zurückzugehen, in jene 50er Jahre, die den Hintergrund des Stückes darstellen. Andere Sitten, andere Frisuren, andere Autos, andere Träume und Sorgen – wir streifen unser altes Ich ab und nehmen eine neue Identität an. Dieser Wandel ist für mich, zugegebenermaßen nicht gerade schwierig, spiele ich doch nur einen anonymen Mann, der am Beginn zusammengeschlagen wird, und später einen Polizisten. Trotzdem, diese ruhigen, kontemplativen Minuten vor der eigentlichen Probe sind angenehm, sie verleihen diesem Augenblick Weihe. Sie lassen all die privaten Gespräche verstummen, die durch den Raum schwirren. Sie machen aus einem Haufen Leute eine Theatergruppe.

In eingespielter Weise nehmen wir unsere Positionen ein, ich stehe allein rechts auf der Bühne, während sich die “Gang” links gruppiert. Auf der Bühne wird es dann völlig dunkel sein, mein Pfeifen wird das erste sein, was das Publikum vernimmt. Sodann nähere ich mich der Mitte, der einzig beleuchteten Stelle zu diesem Zeitpunkt. In diesem Augenblick kommt mir der Anführer der Gang (Buzz) entgegen und tritt ebenfalls in den Lichtkegel. Ich verstumme. Dann fordert er mich auf, mein Pfeifen fortzusetzen, während die anderen Gang-Miglieder mich umzingeln. Ich werde immer nervöser, Buzz fragt nach Zigaretten. Sichtlich beängstigt suche ich welche heraus, biete sie an. Aber er besteht darauf, dass ich selbst eine rauche. Er würde sie mir sogar anzünden.

In dem Moment, als ich mich vorbeuge, trifft er mich mit der Faust in den Magen, ich äußere ein in dieser Situation angemessenes Geräusch. Mein Versuch, nach links zu entkommen, wird von zwei grimmigen Mitmenschen vereitelt, ich finde mich inmitten der Gruppe und auf dem Boden liegend wieder. Dann trampeln alle auf dem Boden in meiner Nähe herum und ich schreie. So, als würde ich gerade zusammengetreten. Mit dem Schrei “Bastards!” krieche ich in eine Richtung und humpele von dannen. Die Gang folgt mir.

Das war also mein glorreicher erster Auftritt. Nun ist’s eine lange Durststrecke bis zum dritten Akt, meinem finalen Auftritt als Polizist. Währenddessen sitze ich also herum und schreibe das hier. Die vielen anderen Untätigen sitzen ebenfalls herum, manche an ihren Laptops. Einige sind auch draußen und erhöhen ihre Chancen auf bestimmte Krankheiten.

Das Stück läuft unterdessen weiter, anscheinend ohne größere Probleme. Heute ist der erste Tag, an dem keine Zeilen mehr vorgesagt werden. Aber bisher gab es noch keine Hänger, das lässt hoffen. Das Maß an Konzentration und Professionalität ist heute abend ziemlich hoch, es ist fast schon erstaunlich für diese Chaoten-Truppe.