Jürgen Mittelstrass – Grenzen des Wissens
Als Eröffnung der Vortragsreihe An den Grenzen des Wissens der Universität und ETH Zürich sprach Prof. Jürgen Mittelstrass mit dem Titel: Was heißt “Grenzen des Wissens”?
Einleitung
Begriff des Wissens aus persönlicher Erfahrung
- Persönlich: Unterscheidung Wissen, Nichtwissen
- Graubereich von Meinungen, Vorstellung (Halbwissen)
- Entwicklung eines Common Sense mit skeptischer Einstellung gegenüber Wissen, da das Wissen der anderen auch begrenzt ist
- Wissen ist fehlbar, enge Grenzen für wirkliches Wissen
Begriff der Grenze aus persönlicher Erfahrung
- Grenzerfahrung alltäglich, normal; intellektuelle, körperliche Grenzen
- Glück ist ebenfalls begrenzt
- Conditio Humana geprägt von Misslingen/Gelingen, folglich als Grenzerfahrung
1. Das Ende der Wissenschaft
- Begriff Ende im Sinne von “es geht nicht weiter”
- Kontrast zum Begriff der Grenze, “es geht weiter”
- nach dem Ende kann es doch weiter gehen, anderer Zustand (Tod als Ende des Lebens)
- Wissenschaft am Ziel (am Ende), alles gelöst, erforscht, erklärt, begriffen; Triumph des wissenschaftlichen Denkens
- Vorstellung vom Ende der Wissenschaft verbreitet (z.B. Diderot, Stephen Weinberg)
- Grenze im positiven, abgeschlossenen Sinn
- Stillstand des Wissens, wie in Buch “The End of Science”
- Erfolg der Wissenschaft ihr Sargnagel
- Übrig bleibt “Reinemachen” für Kleingeister
2. Die Metapher der Wissenskugel
- Metapher kommt aus Wirklichkeit der Wissenschaft (reales Erleben)
- jedes gelöste Problem zieht neue ungelöste Probleme nach sich
- Beispiele: Zellentwicklung, Bewusstsein, Universum
- Metapher nach Pascal: Wissen ist Kugel, die im Universum des Nichtwissens schwimmt
- Pessimistische Deutung: Wissen (=Radius) wächst langsamer als Nichtwissen (=Oberfläche)
- Optimistische Deutung: Wissen (=Volumen) wächst schneller als Nichtwissen (=Oberfläche)
- mehr Wissen führt zu mehr Forschungsaufgaben
- Wissen demnach grenzenlos, da immer neue Fragen entstehen
- Somit wäre die Frage nach dem Ende der Wissenschaft müßig.
3. Ansätze der Wissenschaftstheorie
- Ist Wissen endlich?
- Alltagsverstand: Grenzen sind normal
- Philosophischer Verstand befasst sich mit Reflexion über Grenzen (Conditio Humana)
Ansätze Empirismus (Locke) und Rationalismus (Kant)
Wissenschaftshistorische Perspektive
Grenzen durch Instrumente (Genauigkeit von Messungen)
Astronomische Kräfte ohne Bezug auf Erde (Grenzen durch mangelnde Anwendbarkeit, Bedeutung)
1. These: Asymptotische Ausschöpfung der Natur, führt irgendwann zu Ende der Wissenschaft im Sinne von Vollendung, keine großen Sprünge mehr möglich
2. These: Asymptotische Ausschöpfung der Informationskapazität, irgendwann keine genaueren Beobachtungen mehr möglich, Informationsbarriere
Hat der wissenschaftliche Fortschritt eine Zukunft?
unbeantwortbare Frage
Fragen steuern Wissenschaft, immer neue Fragen geboren
Zwecke steuern Wissenschaft, Erkenntnis, Anwendung
Anzahl möglicher Fragen, Zwecke unbegrenzt
somit ergibt sich eine theoretische Grenzenlosigkeit der Forschung
Beispiel: vollständig erkannte Gesetzmäßigkeit führt zu Voraussagbarkeit
Problem (Planck): genaue Voraussage eines physikalischen Ereignisses nicht möglich
Heisenberg: Kausalität scheitert an Voraussetzung (Messbarkeit des Initialzustandes)
Trennung von Determinismus und Voraussagbarkeit (Grenzen)
Deterministisches Chaos: starke Abhängigkeit vom Anfangszustand, schon bei einfachen Systemen wie Doppelpendel, scheinbar chaotische Schwingungszustände
LaPlace’scher Dämon: mechanistische Auffassung, Dämon berechnet Systemverhalten, aber statistischer Charakter von Impuls- und Ortsgrößen, somit kann auch der Dämon nicht rechnen
4. Ökonomische und ethische Grenzen
- Finanzierbarkeit von wissenschaftlichen Projekten
- immer mehr Aufwand für immer kleinere Schritte
- Beispiel: Nachweis des Top-Quarks (Atomphysik) beschäftigte 450 Wissenschaftler 20 Jahre und kostete Milliarden
- Immer wieder Einstellung von wissenschaftlichen Großprojekten (Super Collider in Texas, Teleskope)
somit gewinnt ökonomischer Begriff des Grenznutzens an Bedeutung, im Kontrast zur Forschungsfreiheit
Ethische Grenzen bei Gentechnik, Klonen (Anwendung von wissenschaftlich Machbarem, Forschung)
Universalethik (unabhängig von kultureller Prägung)
Wissenschaft normativ geprägt
Einzelfallentscheidung, normative Grenzen
Problem: was ist richtige Ethik, Mensch als Entscheider ist unvollkommen
5. Lob der Unvollkommenheit
- Fichte: alle Probleme gelöst; Ziel war vollständige Erklärung, vollständiges Begreifen
- Popper: Falsifizierbarkeit (Verifizierbarkeit), Wahrheitsähnlichkeit, Irrtum
- Wissen anfällig für Irrtum, Offenheit
- Fortschritt nicht abschließbar durch Korrigierbarkeit, Irrtumsanfälligkeit
- Grenzen: Irrtumsgrenzen, Ökonomische Grenzen, ethische Grenzen
- alles das sind praktsiche Grenzen, keine theoretischen
- Wenn es nicht so wäre: Wissenschaft wäre Episode (theoretische Grenze vorhanden) oder Fluch (keine praktischen Grenzen gesetzt)